Michael Rubinstein im Stimme-Interview
über das Leben als Jude in Zeiten wie diesen

An diesem Samstag, 9. November, jährt sich der Pogrom von Nazis gegen jüdische Bürger und Synagogen zum 86. Mal.
Gleichzeitig herrscht in Nahost Krieg, ausgelöst durch – noch brutalere – Hamas-Terroristen, betont Michael Rubinstein.
Der Gemeindedirektor der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs, zu der auch Heilbronn gehört, äußert sich im Stimme-Interview mit Kilian Krauth zu Netanjahu, zu Antisemitismus, zu seiner Gemeinde, zum Leben als Jude in Deutschland.

Kann man den Hamas-Terror mit dem Terror der Nazis in der Pogromnacht 1938 vergleichen?
Michael Rubinstein: Mit Vergleichen muss man aufpassen. Ohne etwas relativieren zu wollen, auch wenn beides staatlich organisiert war: Der Hamas-Terror war in seiner Brutalität viel extremer und eine noch höhere Form der Entmenschlichung.
Israel reagiert mit Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Rubinstein: Das kann man so nicht sagen. Das Zitat aus Thora und Bibel bedeutet: Tu keinem an, was du nicht selbst erleiden möchtest.
Was ich damit eigentlich fragen wollte: Was denken Juden über Netanjahus gnadenlose Politik?
Rubinstein: Was zu wenig wahrgenommen wird: Es gibt kaum eine Demokratie wie in Israel, wo Menschen so stark ihre Rechte einfordern, auf die Straße gehen, ihre Stimme erheben, auch gegen eine demokratisch gewählte Regierung. Das war schon immer so, ob gegen zu hohe Lebensmittelpreise oder die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs. Und nun ist es auch so.
Man sagt ja lapidar: Zwei Juden, drei Meinungen. So sagen die einen, das was Netanjahu macht, ist alternativlos und andere, er macht das Gegenteil von dem, was vernünftig ist und angebracht wäre: Waffenstillstand, Geiseldeal. Die Meinungen gehen auseinander. Aber was alle eint, ist die Verzweiflung oder zumindest Fragen wie: Was kommt danach, was passiert noch alles?
Wir wissen nicht was alles kommt, aber wir wissen um ein Resultat: Der Antisemitismus hat zugenommen. In Amsterdam gab es jetzt sogar einen Pogrom gegen Fußballfans. Unglaublich.
Rubinstein: Sagen wir mal so: Ich bin überrascht, dass sowas erst jetzt passiert. Gewalt im Fußball ist ja nichts Neues. Und psychische Gewalt erleben israelische Sportler ja ständig. Aber ein derart extremes Maß erschüttert mich natürlich. Oh ja! Aber warum sollte der Sport vom allgemeinen Antisemitismus verschont bleiben?
Ist Ihnen auch schon etwas passiert?
Rubinstein: Nein, passiert nicht. Aber ich merke, dass das auch mit mir etwas macht. Ich war neulich auf einer Kundgebung und da habe ich mir schon überlegt, ob ich meine Kippa auf dem Kopf lassen kann. Ein andermal habe ich gemerkt, dass ich wegen der Kippa komisch angeschaut werde. Also das hundertprozentige Vertrauen, das ich von klein auf hatte, hier gut und frei leben zu können, das ist einer emotionalen Verunsicherung gewichen.
Mein Zwillingsbruder fragte mich neulich: Meinst du, wir haben hier eine Zukunft? Aber was wäre die Alternative? Sowas fragten wir uns früher nicht.
Gibt es in ihrem Umfeld konkrete Vorfälle?
Rubinstein: In der Gemeinde zum Glück nicht. Doch merken wir den gewachsenen Antisemitismus an der Uni, an Schulen, gerade erst vorletzte Woche in Stuttgart, wo in einem Klassenpost aufgerufen wurde, alle die gegen Israel sind, sollen ein bestimmtes Bild teilen. Wir spüren aber auch Solidarität, wobei die inzwischen nach dem 7. Oktober eher umgeschwenkt ist in Kritik.
Ich bin neulich in eine Pro-Palästina-Demo geraten, also was ich da gehört habe! Ich hätte mir nie vorstellen können, dass so etwas auf deutschen Straßen gesagt werden darf. Oder was sich die Vizepräsidentin des Bundestages geleistet hat und wie die Bundesregierung da immer noch rumeiert, das verunsichert mich fast noch mehr.
Özogun hatte einen antiisraelischen Post geteilt.
Rubinstein: Ja, und sie ist noch im Amt. Wenn es nicht mal die Mitte der Gesellschaft fertigbringt, Antisemitismus klar zu benennen, zu verurteilen, zu bestrafen, in diesem Fall mit dem Rücktritt, dann kann man von deutscher Staatsraison reden soviel man möchte.
Und was sagen Sie zur aktuellen Berliner Resolution gegen Antisemitismus?
Rubinstein: Resolutionen können etwas bewegen oder verhallen. Schon die Formulierung als Reaktion auf den Hamas-Terror vom Oktober 2023 hat ja ewig gebraucht. Es stellt sich die Frage, ob nicht einiges glattgebügelt wurde. Man muss viel klarer an die eigentlichen Probleme ran, etwa im Kulturbetrieb. Dass man Antisemitismus, der ein 1000-jähriges Phänomen ist, nun einseitig mit Muslimen in Verbindung bringt, täuscht darüber hinweg, dass er in der Mitte der Gesellschaft stattfindet.
Kurzum: Eine Resolution ist schön und gut, was wir aber vielmehr brauchen, ist die Anwendung von Recht und Ordnung, die Strafverfolgung.
Wie groß ist die Gefahr, die von der AfD ausgeht?
Rubinstein: Mir macht nicht primär die AfD Sorgen. Mir macht Sorge, warum so viele diese Partei wählen – und neuerdings auch ganz links Sahra Wagenknecht, die in Vielem der AfD nicht unähnlich ist, gerade beim Thema Israel und Antisemitismus.
Mir macht als Demokrat Sorge, warum Menschen immer weiter in die Ränder wählen und ob es den sogenannten Parteien der Mitte gelingt, dieses Land zu einen. Die Vergangenheit zeigt: Wenn die falschen Leute an die Macht kommen, ist es sehr schwer für andere.
Der aktuelle Antisemitismus geht stark von Muslimen aus. Gehört der Islam zu Deutschland?
Rubinstein: Sehr spannende Frage, zumal Cem Özdemir ja der erste muslimische Ministerpräsident in unserem Land werden könnte. Ich glaube nicht, dass der Islam oder irgendeine Religion ein Problem sind. Es sind immer die Menschen, die aus Religion Politik machen. Muslime gehören in dieses Land, das ist ein Fakt.
Es ist eher die Frage: Wie gehen wir damit um, dass sich ein fanatischer Islamismus durchsetzt. Aber im Grunde kann jeder Fanatiker sein, ob Christ, Jude, Moslem. Da ist keiner besser als der andere.
Reden wir von ihrer Gemeinde. Sie hatten dieser Tage einige hohe Feiertage. Vergeht einem derzeit nicht der Spaß daran?
Rubinstein: Ich war an unserem Neujahrsfest in meiner Heimatstadt Düsseldorf in einer Großgemeinde mit 7000 Mitgliedern. Früher war die Synagoge an Feiertagen immer voll, diesmal war es erstaunlich leer. Die Menschen sind verängstigt.
In Stuttgart war es dagegen voll, mit vielen Kindern und toller Stimmung. Es gibt zwar auch hier Verunsicherung, aber es ist so ein Ruck durch die Gemeinde gegangen: Wir halten zusammen, ziehen uns gerade jetzt nicht zurück, versuchen Normalität walten zu lassen, trotz allem. Alles andere wäre Kapitulation.
Wie viele Mitglieder haben sie, auch in Heilbronn?
Rubinstein: Bundesweit bekennen sich 90 000 Menschen zu jüdischen Gemeinden, wir gehen aber von 250 000 Juden in Deutschland aus, man muss ja kein Mitglied sein. In Württemberg haben wir 2600 Mitglieder, in Heilbronn knapp 100. Heilbronn ist halt keine Großstadt, auch für jüdische Menschen ist der Arbeitsplatz mit ausschlaggebend beim Wohnort.
Das allgemeine Nachwuchs- und das Ehrenamtproblem betrifft auch uns. Nicht alle haben das Herzblut und Engagement wie unsere Heilbronner Gemeindeleiterin Avital Toren. Wir machen uns aber Gedanken, wie wir die Zweigstellen stärken und das Leben vor Ort durch Unterstützung aus Stuttgart stärken können. Da haben wir auch schon Konzepte, die wir 2025 verstärkt angehen wollen. Gerade in Heilbronn, was eine wunderbare Zweigstelle hat, hoffen wir doch, den einen oder anderen aktivieren zu können.
Die Heilbronner Gemeinde baut ja vor allem auf Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion auf, sogenannte Kontingentflüchtlinge.
Rubinstein: Das ist kein Heilbronner Phänomen. Vor der Wiedervereinigung lebten in der Bundesrepublik nur 30 000 Juden. Heute sind fast alle Gemeinden Zuwanderungsgemeinden. Das war wirklich eine Frischzellenkur für uns, freilich mit mancherlei sprachlichen und kulturellen Herausforderungen. Aber ohne sie wären wir in Deutschland nicht mehr existent.
Haben ihre Mitglieder auch Verwandte in Israel?
Rubinstein: Ja. Manche kamen auch wegen des Krieges zurück und sind verängstigt. Viele sind in Sorge um Angehörige, gerade wenn sie in der Armee sind. Aber auch da überwiegt der Stolz und die Überzeugung: Israel ist der jüdische Staat, die jüdische Heimat, der einzige Staat auf der Welt, in den Juden jederzeit aufgenommen werden, wo sie keine Angst vor Antisemitismus haben müssen, – aber leider inzwischen vor Krieg.
Es herrscht eine Stimmung zwischen Trauma und Stolz, ein gewisses Jetzt erst recht. „Jüdisch ist jetzt!“ ist diesen Herbst auch das Motto der jüdischen Kulturwochen in Stuttgart.

Zur Person
Michael Rubinstein, Jahrgang 1972, stammt aus Düsseldorf und ist seit Mai 2024 Gemeindedirektor der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs, zu der auch die Heilbronner Filiale zählt.
2012 kandidierte er als unabhängiger Kandidat bei der Oberbürgermeisterwahlen in Duisburg und erreichte einen respektablen dritten Platz. 2013 erschien im Patmos-Verlag das Buch „So fremd und doch so nah. Juden und Muslime in Deutschland“, das er gemeinsam mit Lamya Kaddor (MdB) schrieb. Ehrenamtlich engagiert er im Vorstand der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und ist dort für die Jugendarbeit zuständig. Nach dem Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 hat er sich entschlossen, sich auch stärker – jenseits von politischen Fragen – für das Land Israel in Deutschland zu engagieren und ist seit April 2024 im Vorstand des Jüdischen Nationalfonds – Keren Kayemet LeIsrael Deutschland e.V. Rubinstein hat eine 24jährige Tochter, die in London lebt. Darüber hinaus eine ältere Schwester und einen Zwillingsbruder, die beide mit Familie in Berlin wohnen.
Michael Rubinstein – Gemeindedirektor der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs
Michael Rubinstein – Gemeindedirektor der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs