Jagd auf ein Phantom
Die dritte Generation
der RAF

Alles vorbei?
Das Schreiben ist auf März 1998 datiert und mit "Rote Armee Fraktion" unterzeichnet. Am 20. April 1998 geht bei der Nachrichtenagentur Reuters in Köln ein achtseitiger Brief ein mit dem Logo der RAF, Stern und Maschinenpistole. Es ist keine Kommandoerklärung wie einst nach so vielen Attentaten, sondern die Auflösungserklärung der linksextremistischen Terrororganisation. 28 Jahre lang hatte die RAF gegen den Staat, gegen die Wirtschaft und deren Vertreter gekämpft.
Die Selbstauflösung der RAF ist Thema in der Tagesschau vom 20. April 1998
Die Selbstauflösung der RAF ist Thema in der Tagesschau vom 20. April 1998
Jetzt, nach Jahrzehnten des Kampfes gegen das System, nach mindestens 34 getöteten Menschen, sollte dieser selbst erklärte Guerillakrieg zu Ende sein. Manche starben, weil sie Vertreter des von der RAF verhassten Systems waren, manche weil sie zufällig Fahrer, Polizist oder Grenzbeamter waren, eine Hausfrau in Zürich, die nach einem Bankraub tödlich getroffen wurde. Mindestens 27 Mitglieder der RAF und andere Militante, die von der RAF für sich reklamiert wurden, kamen bei Festnahmeversuchen, bei Autounfällen oder durch Suizid ums Leben. Die linksextremistische Terrororganisation erfand sich derweil immer neu, kaum waren ihre Kader in Haft, traten neue Kämpferinnen und Kämpfer an ihre Stelle, die zunächst noch brutaler und später viel besser organisiert töteten, um ihre Vorstellung einer anderen Gesellschaft mit Gewalt durchzusetzen.
1998 aber ist die RAF an einem Punkt angekommen, an dem sie nicht weiter kommt. Schon sechs Jahre zuvor hatte sie die Angriffe auf Vertreter aus Staat und Wirtschaft beendet, nur noch einmal war die RAF in Erscheinung getreten, als sie 1993 mit einem nahezu perfekten Anschlag auf die bezugsfertige JVA in Weiterstadt einen Schaden in Höhe von mehr als 100 Millionen DM anrichtete. Eine damals wie heute gewaltige Summe.
"Die RAF war der revolutionäre Versuch einer Minderheit, entgegen der Tendenz dieser Gesellschaft, zur Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse beizutragen. Wir sind froh, Teil dieses Versuchs gewesen zu sein."
Die Analyse der Autoren der Auflösungserklärung fällt nüchtern-distanziert aus, sie haben offenbar erkannt, dass die Mehrheit der Gesellschaft weder hinter den Gewalttaten der RAF steht, noch sich durch ebendiese zu einer Revolution aufstacheln lässt. Immer wieder hatte die RAF ihre strategische Ausrichtung in ihren Schriften angepasst, nicht aber ihre Taten.
Die letzte Seite der Auflösungserklärung.
Die letzte Seite der Auflösungserklärung.
Die Selbstauflösung der RAF kam nicht überraschend. In den Monaten zuvor hatte Birgit Hogefeld während ihres Prozesses entsprechende Erklärungen abgegeben und bereits im Oktober 1993 hatte die inhaftierte Brigitte Mohnhaupt die Spaltung der RAF bekannt gegeben. Die "Hardliner" trugen die Rücknahme der Eskalation durch die aus dem Verborgenen agierenden RAF-Mitglieder der jetzt dritten Generation nicht mehr mit. Das Ende der RAF kam in Schritten, aber unausweichlich.
Auch politisch war die RAF in einer Sackgasse angekommen. Als die so genannte dritte Generation 1984 zum ersten Mal in Erscheinung trat, folgte sie dem "Mai-Papier" von 1982, in dem das so genannte Frontkonzept vorgegeben war. Die Militanten sollten die Speerspitze der Revolution sein, ihnen sollten dann die Massen folgen, die revolutionären Gruppen Westeuropas sollten eine geschlossene Front bilden. Der Avantgarde-Anspruch der RAF änderte sich über all die Jahre nicht. Und damit begründete die RAF ihre Anschläge. Allerdings stand dieser Frontorganisation, als die sich die RAF sah, kein politischer Arm zur Seite, die Aktionen verursachten viel Leid, brachten auf politischer Ebene aber keinerlei Fortschritte. Die linksextremistischen Terroristen standen nach wie vor alleine da, ohne Aussicht, dass sich an der Situation etwas ändern würde.
Die Titelseite der Heilbronner Stimme vom 21. April 1998
Die Titelseite der Heilbronner Stimme vom 21. April 1998
Die Heilbronner Stimme berichtet am 21. April 1998 über die Tags zuvor aufgetauchte Selbstauflösungserklärung der RAF.
Die Heilbronner Stimme berichtet am 21. April 1998 über die Tags zuvor aufgetauchte Selbstauflösungserklärung der RAF.
Nach 28 Jahren sahen die Mitglieder der Rote Armee Fraktion ein, dass ihr revolutionäres Projekt, das einst mit einer gewalttätigen Gruppe um die Protagonisten Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Horst Mahler begonnen hatte, gescheitert war.




Ensslin, Baader, Meinhof, Mahler
1968 sind die Studentenproteste in Europa auf dem Höhepunkt und gleichzeitig am Scheitelpunkt angekommen. Nachdem sich 1966 in Bonn CDU und SPD auf die erste bundesdeutsche Große Koalition geeinigt haben und die FDP als letzte Opposition im Bundestag verblieben ist, organisierten sich Intellektuelle, Aktivisten und Studenten in der APO, der Außerparlamentarischen Opposition. Aber nachdem sich im Februar 1968 beim Internationalen Vietnamkongress in der TU Berlin die Protestbewegung bei ihrer wichtigsten Veranstaltung zusammengefunden hat, kann sie nicht mehr an den Erfolg anknüpfen. Von da an verliert die Bewegung an Schwung, Studentenführer Rudi Dutschke wird in Berlin bei einem Mordversuch durch einen Neonazi niedergeschossen, in Frankfurt zünden vier junge Menschen zwei Kaufhäuser an, als Protest gegen den Konsum, gegen die Verhältnisse als solche.
Bei dem auf die Brandstiftung folgenden Prozess im Oktober 1968 begegneten sich zum ersten Mal die späteren Gründer der Rote Armee Fraktion: die Angeklagten Ensslin und Baader, die Journalistin Ulrike Meinhof, und der Berliner "APO-Anwalt" Horst Mahler. Sie sollten sich bald wieder zusammenfinden.
Ab November 1969 entziehen sich die zu jeweils drei Jahren Zuchthaus verurteilten Brandstifter Gudrun Ensslin und Andreas Baader der Haft, sie gehen nach Paris, nach Italien und schließlich in die Illegalität. Es ist Horst Mahler, der die Flüchtigen nach Berlin zurück holt. Zusammen mit Ulrike Meinhof gründen sie wenig später eine selbst ernannte Stadtguerilla-Gruppe, die Rote Armee Fraktion.
Die Stasi fotografierte Ulrike Meinhofs gefälschten französischen Pass bei ihrer Einreise in die DDR.
Die Stasi fotografierte Ulrike Meinhofs gefälschten französischen Pass bei ihrer Einreise in die DDR.
Die Gruppe besorgt sich Geld durch Banküberfälle, lässt sich von der palästinensischen Fatah in Jordanien im Guerillakampf ausbilden und reist immer wieder über Ost-Berlin, vom Ministerium für Staatssicherheit beobachtet, aber geduldet, ein und aus.
Noch 1970 gibt es die ersten Festnahmen in Berlin. Während sich die Baader-Meinhof-Gruppe auf den Kampf gegen den Staat vorbereitet, Wohnungen in West-Berlin und Westdeutschland als Schlupflöcher einrichtet, beginnt die Polizei damit, sich zu organisieren.
Zwei Jahre später schlägt die RAF mit einer Reihe von sechs Bombenanschlägen zu, vier Menschen werden im Mai 1972 getötet, 74 weitere zum Teil schwer verletzt. Ziele sind die Streitkräfte der Vereinigten Staaten, ein Bundesrichter in Karlsruhe, die Polizei und der verhasste Axel-Springer-Verlag in Hamburg. Die Regierung in Bonn reagiert, stärkt das Bundeskriminalamt, die Polizei fahndet jetzt bundesweit und im großen Stil nach den Mitgliedern der Baader-Meinhof-Gruppe.
Erstes Ende
Die RAF agierte zwar nicht im luftleeren Raum, aber sie stieß mit ihrem Primat der Tat auf vehemente Ablehnung in weiten Teilen der Linken. Hatten die Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe in der Zeit seit 1970 noch Sympathien in großen Teilen der jungen Bevölkerung, obwohl es da bei Auseinandersetzungen mit der Polizei schon Tote gegeben hatte, verlor die Gruppe diese Sympathien weitgehend nach der Attentatsserie vom Mai 1972. Der Soziologe Oskar Negt sprach beim Angela-Davis-Kongress Anfang Juni 1972 in Frankfurt von einem "Gemisch von Illegalitätsromantik, falscher Einschätzung der gesellschaftlichen Situation als offener Faschismus und illegitimer Übertragung von Stadtguerilla-Praktiken auf Verhältnisse, die nur aus einer Verzweiflungssituation heraus mit Lateinamerika verwechselt werden können."
..."handelt es sich um ein Gemisch von Illegalitätsromantik, falscher Einschätzung der gesellschaftlichen Situation als offener Faschismus und illegitimer Übertragung von Stadtguerilla-Praktiken"...
Oskar Negt attestierte den Gruppen, die sich ab Ende der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik gebildet hatten, einen "aussichtslosen Kampf", den sie am besten umgehend einstellten. Alleine, die Mitglieder der RAF waren für diese Kritik nicht empfänglich. Negt dehnte seine Kritik auf die Sympathisantenszene aus, die jedem zustimme, der etwas gegen das System unternehme und der die Wahl der Mittel egal seien.
Keine zwei Wochen nach der Anschlagserie kann die Polizei Erfolge vermelden: Im Hofeckweg in Frankfurt wird nach Hinweisen aus der Bevölkerung eine Garage gefunden, die der RAF als Lager dient. Und genau dort treffen am frühen Morgen des 1. Juni 1972 Holger Meins, Jan-Carl Raspe und Andreas Baader ein. Vor laufenden Fernsehkameras liefern sich Terroristen und Polizei Feuergefechte, die Einschusslöcher in der Mauer der Hofeinfahrt sind noch Jahrzehnte später zu sehen.
Ein Polizeischütze trifft Andreas Baader in den Oberschenkel, der Namensgeber der Gruppe wird später von Polizisten aus der Einfahrt gezerrt. Da hatte sich Holger Meins bereits ergeben, sich bis auf die Unterhose entkleidet und war so vor den Kameras in einen Polizeibulli geführt worden. Die RAF hatte einen wichtigen Teil ihrer Kerngruppe verloren.
Das Fahndungsplakat zeigt die erste Generation der RAF.
Das Fahndungsplakat zeigt die erste Generation der RAF.
Nur eine Woche später gelingt der Polizei der nächste Schlag, als die RAF-Mitgründerin Gudrun Ensslin in einer Boutique in Hamburg gefasst wird. Die im Ostalbkreis geborene und in Stuttgart aufgewachsene Studentin Ensslin wird von zwei Streifenpolizisten überwältigt, die gerufen worden waren, weil Ensslin ihre Jacke samt Waffe abgelegt hatte und diese von einer Verkäuferin gefunden worden war. Und auch Ulrike Meinhof wird bald darauf gefasst, verraten von einem Lehrer in Hannover-Langenhagen. Mit diesen und weiteren Verhaftungen aus dem Umfeld ist die erste Generation der RAF in Haft.
In Heilbronn wird derweil eine konspirative, also verdeckte Wohnung der RAF ausgehoben. Am 30. Juni 1972 berichtet die Stimme über vier Zimmer, spartanisch möbilierte 130 Quadratmeter und 650 Mark Monatsmiete für einen Unterschlupf im Hochhaus Knorrstraße 47, direkt an der Neckarhalde gelegen. Gemietet worden war die Wohnung von einer Hamburger Studentin, deren Eltern später im Stammheim-Prozess als Zeugen aufgerufen wurden und sich mit dem Vorwurf der Falschaussage konfrontiert sahen.
Die Heilbronner Stimme berichtete am 30. Juni 1972 über die konspirative Wohnung in Heilbronn.
Die Heilbronner Stimme berichtete am 30. Juni 1972 über die konspirative Wohnung in Heilbronn.
Zwar berichtet die Stimme damals auch, dass Andreas Baader just am Tag vor seiner Verhaftung in Heilbronn gesehen worden sein soll, die Zahnbürsten in der Wohnung waren jedoch unbenutzt.
Fast die gesamte Rote Armee Fraktion wurde bis Sommer 1972 verhaftet. Die gewalttätige Auseinandersetzung mit dem Staat und den bundesdeutschen Verhältnissen allerdings würde von da an noch Jahrzehnte weiter gehen.
Stammheim
Die Haftanstalt in Stuttgart-Stammheim: Ort der Konfrontation, Ort eines der aufwändigsten und umstrittensten Prozesse der bundesdeutschen Geschichte, Sterbeort für vier Mitglieder der Rote Armee Fraktion. Kaum ein Prozess hat das Land so beschäftigt wie der Prozess gegen die erste Generation der RAF in Stammheim, kaum eine Gruppe hat es geschafft, die Politik so in die Ecke zu drängen, dass ihre Vertreter bereit waren, außerhalb des Gesetzes zu agieren, wie die zweite Generation der RAF. Die düstere Stimmung, die bleierne Zeit, die Wut gegenüber den Linksterroristen, der Kampf für bessere Haftbedingungen: All das fokussierte sich ab 1974 auf die oberste Etage des siebenstöckigen Hochhauses der Haftanstalt in Stammheim.
Dort saßen Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe ein, zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte nicht nach Geschlechtern getrennt. Dazu kamen in wechselnder Besetzung weitere Angehörige der RAF. Ingrid Schubert war im siebten Stock der JVA Stammheim inhaftiert, ebenso Brigitte Mohnhaupt, Irmgard Möller und Helmut Pohl.
Hans-Joachim Klein (vorne) mit dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre (links) und Rechtsanwalt Klaus Croissant auf dem Weg vom Stuttgarter Flughafen zum Gefängnis Stammheim.
Hans-Joachim Klein (vorne) mit dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre (links) und Rechtsanwalt Klaus Croissant auf dem Weg vom Stuttgarter Flughafen zum Gefängnis Stammheim.
Die RAF nutzte die Haftzeit für Marketing in eigener Sache, ihre Mitglieder sprachen wegen der scharfen Sicherheitsvorkehrungen samt Kontaktbeschränkungen und Isolation von Folter. Nicht ganz ohne Grund, je nach Auftraggeber teilten Sachverständige diese Aussicht und für das Stammheimer Gericht bescheinigte ein Sachverständiger gar den Angeklagten, nur beschränkt verhandlungsfähig zu sein. Schon vor Beginn der Hauptverhandlung war das RAF-Mitglied Holger Meins in der Haftanstalt in Wittlich während eines Hungerstreiks gestorben, buchstäblich verhungert.
Und noch eine Gefangene sollte nie einen Richtspruch erhalten. Ulrike Meinhof wurde am Morgen des 9. Mai 1976 erhängt in ihrer Zelle in Stammheim gefunden. In Zelle 720, in der eineinhalb Jahre später Andreas Baader sterben sollte. Justiz und Angestellte der Haftanstalt sprachen davon, dass die Gruppe der Gefangenen Ulrike Meinhof zunehmend isoliert und sich von ihr abgegrenzt habe. Was die RAF vehement zurückwies und einen Mord vermutete.
Tatsächlich war es so, dass Ulrike Meinhof im Verlauf des Prozesses angesetzt hatte, eine Erklärung abzugeben, die der Vorsitzende Richter Dr. Theodor Prinzing allerdings, wie fast immer im Verlauf des Prozesses, direkt unterbrach. Die auf Tonband unvollständige Einlassung beinhaltet den Satz "...oder Sie bringen einen zum Reden - und das ist das Geständnis und der Verrat... das ist Folter, exakt Folter." (41. Verhandlungstag, 28. Oktober 1975) Es ist unklar, worauf die ehemalige Journalistin hinaus wollte. Manche vermuten, sie wollte sich eventuell zu einer Aussage bereiterklären und sich von der Gruppe oder ihren Taten distanzieren.
Das Marketing der RAF trug Früchte: Es bildeten sich Komitees gegen Isolationsfolter - aus denen sich neue Mitglieder der RAF rekrutierten. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre besuchte Andreas Baader am 4. Dezember 1974 in Stammheim. Sartre ließ sich in einem Wagen vom Flughafen nach Stammheim fahren, an dessen Steuer Hans-Joachim Klein saß, später Mitglied der Revolutionären Zellen und 1975 an dem blutigen Überfall auf die OPEC mit Geiselnahme in Wien beteiligt.
Der Gerichtssaal direkt neben der JVA in Stammheim
Der Gerichtssaal direkt neben der JVA in Stammheim
In Stammheim wurde der ersten Generation der Rote Armee Fraktion der Prozess gemacht. 192 Sitzungstage weist das 14.000 Seiten starke Protokoll aus. Kein normaler Prozess, sondern vielmehr ein fragwürdiger Prozess. Das Gericht diktierte Gesetze, die speziell auf das Verfahren zugeschnitten wurden. So konnten Anwälte auf bloßen Verdacht hin ausgeschlossen werden, Verhandlungen in Abwesenheit der Angeklagten wurden möglich. Otto Schily, Verteidiger von Gudrun Ensslin, konstatierte zu Prozessbeginn "Die Verteidigung ist zerschlagen."
"Die Verteidigung ist zerschlagen."
Der Vorsitzende Richter, Dr. Theodor Prinzing, wurde nach 85 Befangenheitsanträgen abgesetzt. "Dieses Verfahren war eine Farce", sagte der Anwalt Kurt Groenewold später und erntete nur wenig Widerspruch. Unter anderem waren die Gespräche zwischen Anwälten und ihren Mandanten, den RAF-Mitgliedern, in der Haftanstalt abgehört worden, ein ungeheuerlicher Vorgang und ein glatter Rechtsbruch.
Stammheim wurde zum Sinnbild des Kampfes des Staates gegen die Rote Armee Fraktion, ein in Beton gegossenes Statement, obwohl das markante Hochhaus der Haftanstalt schon in den 60er-Jahren errichtet worden war. Die JVA wurde aber auch zum Symbol des Versagens eben jenes vermeintlich um seine Existenz kämpfenden Staates und der Justiz. Denn die abgehörten Gespräche waren zwar ein riesiger Skandal. Verglichen mit dem, was 1977 folgen sollte, aber nur ein Vorspiel. Am Gründonnerstag erschoss das "Kommando Ulrike Meinhof" der RAF Generalbundesanwalt Siegfried Buback, seinen Fahrer und einen Begleiter in Karlsruhe auf offener Straße.
7. April 1977: Die RAF erschießt Generalbundesanwalt Siegfried Buback in Karlsruhe.
7. April 1977: Die RAF erschießt Generalbundesanwalt Siegfried Buback in Karlsruhe.
Herbst in Deutschland
Um 17.28 Uhr stoppte am 5. September 1977 ein querstehender Mercedes die Wagenkolonne von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer in Köln. Der Deutsche Herbst begann an diesem Spätsommertag, die zweite Generation der Rote Armee Fraktion setzte alles daran, ihre Gesinnungsgenossen aus der Haft freizupressen.
Die Polizei fahndet in Mannheim 1977 nach Christian Klar.
Die Polizei fahndet in Mannheim 1977 nach Christian Klar.
Ulrike Meinhof war da schon mehr als ein Jahr tot. Als die Namensgeberin der Baader-Meinhof-Gruppe am 9. Mai 1976 am Gitter des Fensters von Zelle 720 im Stammheimer Gefängnis starb, war der erste Versuch, die Gefangenen aus der RAF freizupressen, bereits gescheitert. Am 24. April 1975 hatten sich sechs Mitglieder der RAF Zugang zur westdeutschen Botschaft in Stockholm verschafft und Geiseln genommen. Die Bilanz: vier Tote und eine durch eine vermutlich unbeabsichtigte Sprengstoffexplosion verwüstete Botschaft. Die Bundesregierung, hatte Kanzler Helmut Schmidt schon frühzeitig klar gemacht, würde nicht auf ein Tauschgeschäft eingehen.
Und daran sollte sich auch nichts ändern, als die RAF den Arbeitgeberfunktionär Schleyer in ihre Gewalt gebracht hatte. Eine vorherige versuchte Entführung des Bankiers Jürgen Ponto war gescheitert, Ponto in seinem Wohnhaus erschossen worden.
Palästinensische Terroristen entführten eine Lufthansa-Maschine nach Mogadischu. Dort beendete die GSG9 die Geiselnahme.
Palästinensische Terroristen entführten eine Lufthansa-Maschine nach Mogadischu. Dort beendete die GSG9 die Geiselnahme.
Jetzt Wirtschaftsführer Schleyer und dann noch ein Flugzeug der Lufthansa: Mehr als 90 Menschen befanden sich ab dem 13. Oktober 1977 in der Gewalt von Terroristen, die RAF hatte mit Unterstützung eines palästinensischen Kommandos den deutschen Staat in Bedrängnis gebracht. Mancher ahnte gar das Ende des Staates voraus, völlig aus der Luft gegriffen, denn es war keine Armee, die da gegen die Regierung kämpfte, sondern lediglich drei Dutzend Bewaffnete. Politik wurde in Bonn in zwei Krisenstäben gemacht, die gewählten Volksvertreter waren über Wochen außen vor. Eilig wurden neue Gesetze verabschiedet, um die totale Isolation der Gefangenen nachträglich zu legitimieren. Keine der beiden Seiten gab nach, die Stimmung war drückend, ein Sympathisant der RAF zu sein, galt schon als Verbrechen und nicht wenige forderten die Einführung der Todesstrafe.
Und gerne auch eine großzügige Ächtung und Bestrafung von Helfern. Der "Sympathisant" wurde überall gesehen, von Politikern aller Couleur beschworen und der Stempel leichtfertig verteilt. Das war schon seit den frühen 1970er Jahren so. Als Nobelpreisträger Heinrich Böll 1972 einen sachlichen Umgang mit der Baader-Meinhof-Gruppe gefordert hatte, brach ein dermaßen wüster Sturm der Entrüstung los, dass sich andere Kunstschaffende mit dem Schriftsteller in offenen Briefen solidarisierten. Wer auch nur im Verdacht stand, den Terroristen zu helfen, wurde als schuldig benannt.
Das betraf nicht nur linke Studenten, sondern auch viele Intellektuelle und Künstler. So musste sich der Liedermacher Hannes Wader verantworten, weil er seine Hamburger Wohnung einer jungen Frau überlassen hatte: Gudrun Ensslin. Die damalige Schauspielerin und spätere Regisseurin Margarethe von Trotta wurde ebenfalls als Sympathisantin verdächtigt. Zu Recht übrigens - Stichwort: Aufbewahrung eines Koffers. Das Klima in Deutschland war vergiftet, ausgehend von einer gewalttätigen Gruppe, die aus nicht mehr als drei Dutzend Personen bestand.
Am 18. Oktober 1977 endete der Deutsche Herbst, als die GSG9, eine neu gegründete Anti-Terrorismus-Einheit des Bundesgrenzschutzes, in Mogadischu die Geiseln der Landshut befreite. Um 0.38 Uhr vermeldete der Deutschlandfunk den erfolgreichen Einsatz, am folgenden Morgen waren Gudrun Ensslin und Andreas Baader tot, Jan Carl Raspe tödlich und Irmgard Möller schwer verletzt. Alle vier saßen in Stammheim ein, zwei von ihnen hatten Pistolen, in weiteren Zellen wurden später weitere Waffen und sogar Sprengstoff gefunden - in einem der angeblich sichersten Gefängnisse des Landes.
Helmut Ensslin steht bei der Beerdigung am 27. Oktober 1977 am offenen Grab auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof. Ganz rechts, halb verdeckt, Anneliese Baader.
Helmut Ensslin steht bei der Beerdigung am 27. Oktober 1977 am offenen Grab auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof. Ganz rechts, halb verdeckt, Anneliese Baader.
Rekrutierung
Diese so genannte "zweite Generation" der RAF kam nach der Verhaftung der Gründergeneration nicht aus dem luftleeren Raum. Mit Brigitte Mohnhaupt war eine ihrer prägenden Figuren bereits von Anfang an bei der Stadtguerilla, und auch schon inhaftiert gewesen. Einen Teil ihrer Haftstrafe verbüßte Mohnhaupt im siebten Stock in Stammheim, als sie wieder frei kam, machte sie sich fast augenblicklich daran, die Freilassung ihrer Genossinnen und Genossen zu erzwingen.
Schon zuvor hatte sich eine Gruppe um den RAF-Anwalt Eberhard Becker gebildet, die aber am 4. Februar 1974 ausgehoben wurde. Christa Eckes, Helmut Pohl, Ilse Stachowiak, Eberhard Becker, Wolfgang Beer und Margrit Schiller kamen in Haft und wurden fortan die "Gruppe 4.2." genannt. Damit war aber das Reservoir der RAF-Neumitglieder nicht erschöpft. Der gescheiterten Aktion in Stockholm folgte die "Offensive 77", die mit der Ermordung Siegfried Bubacks begann, mit der gescheiterten Entführung und Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto weiter ging und schließlich im "Deutschen Herbst" gipfelte. Die RAF wurde zwar immer wieder dezimiert, es gelang den Sicherheitsbehörden aber nie, sie ganz zu zerschlagen.
Als Ensslin, Baader und Meinhof in Haft waren, führten Mitglieder der Revolutionären Zellen (RZ) die Nachfolger der Inhaftierten zu den geheimen Depots mit Pässen, Bargeld und Waffen. Das Personal rekrutierte sich die RAF aus den "Komitees gegen Isolationsfolter", die sich für bessere Haftbedingungen für die inhaftierten RAF-Mitglieder einsetzten und aus anderen linken Bewegungen. So schlossen sich schon 1971 Mitglieder des Heidelberger Sozialistischen Patientenkollektivs, die "aus der Krankheit eine Waffe machen" wollten, der RAF an. 1980 wechselten Teile der sich auflösenden "Bewegung 2. Juni" zur RAF, unter ihnen beispielsweise die 2023 verstorbene Inge Viett.
Im Nachgang des "Deutschen Herbstes" rechnete das Bundeskriminalamt 20 RAF-Mitglieder zur Kommandoebene, davon wurden im Lauf der Jahre zehn gefasst und verurteilt, sieben wegen anderer Straftaten verurteilt, zwei bei Festnahmeversuchen erschossen, Friederike Krabbe blieb verschwunden. Als im November 1982 zuerst Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz und kurz darauf Christian Klar verhaftet wurden, schien die Rote Armee Fraktion wieder zerschlagen. Trotzdem tauchte das Signet mit dem roten Stern und der Heckler & Koch-Maschinenpistole wieder auf.


Von Meinhof zu Klette
Ganze Reihen von Fahndungsplakaten wurden in der Bundesrepublik in Banken und Polizeiwachen, an Bahnhöfen und Grenzübergängen angeschlagen. Nachdem Ulrike Meinhofs Konterfei nach der gewaltsamen Befreiung von Andreas Baader aus der Haft am 14. Mai 1970 in West-Berlin zuerst in tausendfacher Ausführung an Litfaßsäulen zu sehen war, sollten die Fahndungsplakate über Jahrzehnte die Deutschen begleiten. Nur die Gesichter und das Aussehen der Plakate änderten sich.
Zuletzt fahndete das Bundeskriminalamt noch nach einigen wenigen bekannten Verdächtigen aus der so genannten "dritten Generation" der RAF. Darunter war auch bis zu ihrer Festnahme im Februar 2024 Daniela Klette. Das Fahndungsbild von Klette war da schon Jahrzehnte alt.
Die hier ebenfalls gesuchte Andrea Klump wurde gefasst, dann aber nicht wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Sabine Callsen stellte sich 2003 den Behörden, nachdem sie fast 20 Jahre im Nahen Osten gelebt hatte.
Generationen
Wie also war das mit den drei Generationen in der Rote Armee Fraktion? De facto ist klar, dass es über 28 Jahre eine gewisse Kontinuität gab. Trotz aller Fahndungserfolge gelang es den Behörden nie, alle Mitglieder der RAF zu ermitteln, geschweige denn ihrer habhaft zu werden. Dabei war die RAF nie der riesige Apparat, als der sie vor allem von der Strafverfolgung mit ihrer Sympathisantenszene dargestellt wurde. Aber die Kommandoebene der RAF, also die Teile der Organisation, die Gewaltakte vorbereiteten und ausführten, war nicht ein völlig losgelöster Haufen von Desperados, der immer wieder Staat und Gesellschaftsform stürzen wollte. Stattdessen war die RAF zu Beginn eingebettet in ein Netz verschiedener linksextremistischer Organisationen wie der Bewegung 2. Juni, den Haschrebellen, den Tupamaros West-Berlin und München und den Revolutionären Zellen.
Damit war nicht nur ein den Zielen der Stadtguerilla gewogenes Umfeld gegeben, sondern gleichzeitig auch ein Reservoir für materielle und personelle Unterstützung. Und damit auch die Grundlage für eine gewisse Kontinuität geschaffen. Denn in der breiten Linken wurde die Gewalt der Stadtguerilla abgelehnt. Aber stellt sich bei der RAF tatsächlich auch die Generationenfrage? Und wenn ja, wie lassen sich die Generationen voneinander trennen?
Unstrittig ist, dass nach den Fahndungserfolgen von 1972 die erste Generation der RAF in Haft war und sich die Gruppe um Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Andreas Baader in den folgenden Jahren vor verschiedenen Gerichten verantworten musste. Die Gründungsmitglieder der RAF und ihre ersten Helfer werden als erste Generation bezeichnet, aber schon hier verläuft die Abgrenzung nicht scharf.
Die so genannte zweite Generation RAF formierte sich zwar aus der Unterstützerszene für die Inhaftierten der Gründungsgeneration. Aber mit Mitgliedern wie beispielsweise Brigitte Mohnhaupt, die schon sehr früh zur RAF gestoßen war, war die Kontinuität zwischen den Generationen gegeben. Die Grenze lässt sich nicht scharf ziehen. Als vorrangiges Ziel der zweiten Generation der RAF kann mit der Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm 1975 und dem "Deutschen Herbst" zwei Jahre später die Freipressung der ersten RAF-Generation gesehen werden.
Das sollte sich ändern, nachdem fast alle bekannten Mitglieder, die an den Taten von 1977 beteiligt waren, ermittelt und festgenommen oder bei Festnahmeversuchen getötet worden waren. Zudem war es den Ermittlern gelungen, die Logistik der Gruppe weitgehend zu zerschlagen.
Denn in dem Erddepot bei Heusenstamm südlich von Frankfurt, an dem im November 1982 Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz festgenommen wurden, fanden sich außer Geld, Waffen und Dokumenten wie Entwürfe für Bekennerschreiben auch Hinweise auf andere Depots. An einem weiteren wurde kurz darauf Christian Klar verhaftet, alle anderen Depots wurden ausgehoben.
Die Heilbronner Stimme vom 12. November 1982: Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz wurden südlich von Frankfurt gefasst.
Die Heilbronner Stimme vom 12. November 1982: Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz wurden südlich von Frankfurt gefasst.
Noch während Mohnhaupt, Klar und Schulz in der Illegalität dem Zugriff der Behörden entzogen waren, entwickelte die RAF nach den gescheiterten Gefangenenbefreiungen ein neues Konzept. Das so genannte Mai-Papier von 1982 "Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front" fasst die neue Linie der RAF zusammen. Die so genannte dritte Generation machte sich bereit. Und ihre Mitglieder sollten viele Fehler ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger nicht wiederholen. Der Terrorismus der Rote Armee Fraktion wurde professioneller.
Die dritte Generation
Vom Beginn der 1980-er-Jahre an formierte sich eine RAF, die als die dritte Generation bezeichnet werden sollte. Dabei änderte die Terrororganisation nicht nur zum Teil ihr Vorgehen, sondern auch ihre Struktur. Aus der großen vernetzten Gruppe wurde eine Organisation, die aus einzelnen Kommandos bestand, die weitgehend eigenständig agierten. Auch das machte die Identifizierung der aktiven RAF-Mitglieder schwierig. Über die dritte Generation der RAF ist wenig bekannt, Strukturen, Arbeitsweise und Mitglieder sind nach wie vor unbekanntes Terrain.
"unser entscheidender fehler aber war, die aktion nicht noch mal von grund auf neu zu bestimmen, nachdem die bundesregierung das erste ultimatum hatte verfallen lassen, also klar war, dass sie schleyer aufgegeben hatten und auf seinen tod warteten."
Zweimal war die Struktur der RAF zerschlagen worden, insbesondere die (gescheiterten wie durchgeführten) Entführungen verlangten nach großen Gruppen, die sich an den Vorbereitungen und später auch an den Taten beteiligten. Große Gruppen sind viel leichter zu fassen als kleine Zellen, was sich nicht zuletzt in vergangener Zeit bei islamistischen Terroranschlägen gezeigt hat. Gruppen aus zwei oder drei Personen sind eher klandestin zu halten als größere Organisationen. Die RAF hatte aus ihren Fehlern gelernt, die dritte Generation perfektionierte nicht nur die Aktion im Verborgenen, sie vermied auch große Gruppen.
Und so ist nach wie vor nicht bekannt, wer sich an den Vorbereitungen und Anschlägen der späten 1980er und frühen 1990er-Jahre beteiligt hat. Die Polizei kann bis heute nur eine Handvoll Verdächtige nennen, die sie der RAF zurechnet.
Fahndungsplakat von 1993
Fahndungsplakat von 1993
Präzise.
Zu präzise?
Die Mitglieder der Rote Armee Fraktion blieben, zumindest soweit bekannt, in der Illegalität oder fanden sich dort ein und in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre zusammen. Die Angriffsziele der Terrorgruppe veränderten sich kaum: das US-Militär und führende Politiker und Industrielle, die Manager des so genannten militärisch-industriellen Komplex'. Eine Kontinuität im Bestehen der RAF ist der Glauben ihrer Mitglieder, für das Gute zu kämpfen, auf der Seite der Befreiungsbewegungen im Trikot, im Süden, in Südostasien und in Lateinamerika. Als Ziel galt, wem ausbeuterische Unternehmungen in der so genannten Dritten Welt unterstellt wurden, unabhängig davon, ob das wahr oder falsch war.
Die neue Anschlagserie der RAF begann am 1. Februar 1985, als sich ein als Briefträger getarntes Kommando Zutritt zum Haus des Vorstandsvorsitzenden der Motoren- und Turbinen-Union (MTU), Ernst Zimmermann, bei München verschaffte und ihn in seinem Schlafzimmer erschoss. Eine ganze Reihe von Anschlägen, auch mit Bomben, erschütterten in den folgenden Jahren die Bundesrepublik, bis am 30. November 1989 der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, in Bad Homburg, nördlich von Frankfurt, durch eine Bombe getötet wurde.

Denn der Sprengsatz hatte den Bankmanager auf dem Rücksitz seines gepanzerten Mercedes tödlich verletzt. Sein Fahrer überlebte die Explosion und gezündet worden war der Sprengsatz mittels Lichtschranke. Die war per Hand aktiviert worden, nachdem sie vom vorderen Begleitfahrzeug Herrhausens passiert worden war.
Diese Bombe allerdings war das Werk professioneller Bombenbauer, ein präzises Mordwerkzeug. Der Sprengsatz stammte nicht von irgendwelchen Amateuren, die ein paar Chemikalien mit Kaffeemühlen mahlen und dann zusammenrühren, wie das noch Ensslin, Baader, Meinhof 17 Jahre zuvor gemacht hatten. Denn um die Panzerung des Mercedes zu durchdringen, hatte es einer speziellen Konstruktion bedurft, einer so genannten Hohlladung. Eine so präzise Bombe war zu präzise für die selbsternannte Stadtguerilla, dachten viele. Es stellte sich bald die Frage, wer der RAF geholfen haben könnte, und in Zeiten eines gewaltigen politischen Umbruchs zeigten nicht wenige Finger nach Ost-Berlin.
Dass sie damit Recht haben sollten, zeigte sich nur wenige Monate später. Denn kaum begann die DDR ihre Selbstauflösung, tauchten dort einige der meistgesuchten Terroristen Westdeutschlands auf, wurden verhaftet, an die BRD ausgeliefert, vor Gericht gestellt und alle verurteilt. Es war das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, die Stasi, die aussteigewilligen RAF-Mitgliedern Deckung gab, sie schulte und für eine reibungslose Eingliederung in den sozialistischen Osten Deutschlands sorgte. Zudem wurde im Lauf der Jahre bekannt, dass Mitglieder der RAF in Ostdeutschland im Umgang mit einer Panzerfaust geschult wurden, wie sie (vermutlich) Christian Klar beim Anschlag auf den US-General in Heidelberg 1981 einsetzte. Seitdem rissen die Spekulationen über eine Beteiligung damals noch aktiver Stasi-Kader am Anschlag auf Herrhausen nicht mehr ab.
Erst recht nicht nach dem letzten Mord der RAF, dem Anschlag auf den Chef der Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder. Der Manager wurde am 1. April 1991 im ersten Stock seines Wohnhauses in Düsseldorf erschossen. Und zwar aus einer Entfernung von 63 Metern. Schnell stellte sich wieder die Frage: Wer wurde wo als Scharfschütze ausgebildet? War es wirklich die RAF oder waren es womöglich ehemalige Stasi-Offiziere, die den Mann ausschalten wollten, der für die Restrukturierungen der ganzen ostdeutschen Volkswirtschaft verantwortlich war?
Oder wurde gar ein brutales, tödliches Spiel gespielt? Wurde das Haar, das viele Jahre später als einzige Spur Wolfgang Grams zugewiesen wurde, absichtlich an einem Handtuch zurückgelassen? Denn die Waffe, mit der Rohwedder erschossen wurde, wurde bereits sechs Wochen vorher eingesetzt. Dabei feuerte ein RAF-Kommando mehr als 250 Schüsse auf die US-Botschaft in Bonn ab. Die Schützen gaben die Schüsse ungezielt über den Rhein auf das Gebäude ab, verletzt wurde niemand. Jetzt aber hatte jemand genau eine dieser Waffen für drei gezielte Schüsse auf Treuhand-Chef Rohwedder eingesetzt. Waren es zwei verschiedene Schützen, oder sollte mit dem dilettantischen Anschlag in Bonn eine falsche Fährte gelegt werden?
Keine dieser Fragen ist bislang beantwortet, die Ermittler wissen nicht einmal, nach wem sie suchen sollen, wer diese Mitglieder der dritten Generation der RAF waren. Die Polizei jagt bis heute einem Phantom hinterher, und manche Verschwörungstheorie behauptet gar, es habe nie eine dritte Generation der RAF gegeben. Auch wenn die Personen unbekannt waren, bekannt war, was sie diskutierten.
Gewaltverzicht
Erreicht hatte die RAF mit all ihren Anschlägen und Morden, mit all den Kommandoerklärungen und Papieren nichts. Sie hatte sich außerhalb eines engen, unbekannten Unterstützerkreises soweit ins Abseits manövriert, dass ein wie auch immer gearteter Dialog völlig unmöglich erschien. Wenn der Adressat nicht mit Worten zu erreichen ist, dann vielleicht mit Taten. Zumindest könnte sich das der damalige Innenminister Klaus Kinkel (FDP) gedacht haben, als er eine Initiative startete, um über die Zukunft der inhaftierten RAF-Mitglieder zu diskutieren.
Die Gefangenenfrage war immer eines der zentralen Themen der Rote Armee Fraktion gewesen. Gegründet hatte sich die Stadtguerilla, nachdem ein bewaffnetes Kommando Andreas Baader in Berlin aus der Haft befreit hatte. Es folgten die Geiselnahmen in der Botschaft in Stockholm, von Hanns Martin Schleyer und der Lufthansa-Maschine "Landshut", ohne dass die Terroristen damit Erfolg gehabt hätten, ohne dass ihre Genossinnen und Genossen die Gefängnisse verlassen konnten.
Anfang 1992 stellte sich dann jedoch die Frage, ob denn zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilte Mörder über weitere Jahrzehnte in Haft bleiben sollten. Manche von ihnen waren zudem schwer krank, wie beispielsweise Günter Sonnenberg, dem bei seiner Festnahme in Singen unweit der Schweizer Grenze in den Kopf geschossen worden war.
Klaus Kinkel (links) mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl.
Klaus Kinkel (links) mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl.
Kinkel traf einen Nerv, denn tatsächlich war die Frage der Gefangenen ein Thema, das viele RAF-Mitglieder nach wie vor umtrieb. Es entspann sich eine halböffentlich geführte Diskussion, die Illegalen reagierten im April 1992 mit einem Papier, in dem sie ankündigten, die Gewalt zurückzunehmen. Die RAF stellte die Angriffe auf Manager, Militärs und Politiker ein. Über das Vorgehen bestand allerdings kein Konsens, und im Oktober des Folgejahres verkündete die in Bayern inhaftierte Brigitte Mohnhaupt in einem Beitrag in der Frankfurter Rundschau die Spaltung der RAF. Bis dahin hatte die RAF ein Gefängnis gesprengt und bei einem Festnahmeversuch waren zwei Menschen gestorben.
Während die größere Gruppe um den in Celle inhaftierten Stockholm-Attentäter Karl-Heinz Dellwo die Illegalen bei ihrem Weg in den Gewaltverzicht unterstützten, widersetzten sich die Hardliner um Mohnhaupt.

Weiterstadt
Dass die Illegalen der RAF nach wie vor zu Anschlägen in der Lage waren, zeigten sie ein Jahr nach Beginn der Kinkel-Initiative, am 27. März 1993, als sie die bezugsfertige Haftanstalt im hessischen Weiterstadt in die Luft jagten. Der Sachschaden belief sich auf mehr als 100 Millionen Mark, verletzt wurde allerdings niemand. Denn das RAF-Kommando hatte die wenigen Wachleute überrumpelt und dann in sicheren Abstand verbracht.
Mehrere Personen waren in der Nacht mit Hilfe einer Strickleiter über die Außenmauer der Anstalt gestiegen. Die Bundesanwaltschaft beschuldigt Daniela Klette, Burkhard Garage und Volker Staub, an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Verurteilt worden ist dafür allerdings bislang niemand. Daniela Klette wird sich nach dem ersten Verfahren wegen mehrerer Raubüberfälle möglicherweise auch für diese und weitere RAF-Taten verantworten müssen.
Mit dem Anschlag hatte die RAF unter Beweis gestellt, dass sie nach wie vor schlagkräftig ist. Auch hier war die Ausführung der Sprengung professionell und auf maximalen Schaden angelegt. Die Gruppe zeigte aber auch, dass sie es ernst meinte mit dem teilweisen Gewaltverzicht. Menschen sollten nicht mehr von der Rote Armee Fraktion getötet werden. Bis am 27. Juni 1993 eine Spezialeinheit der Polizei im mecklenburgischen Bad Kleinen im Bahnhof zwei RAF-Mitglieder festnehmen wollte. Bei einem Schusswechsel starb der Polizist Michael Newrzella durch Schüsse aus Wolfgang Grams' Pistole. Grams selbst starb ebenfalls.

Tod an Gleis 3
Dem Verfassungsschutz war es Anfang der 1990er-Jahre endlich gelungen, was in den mehr als zwei Jahrzehnten zuvor erst einmal erreicht wurde: Einen Informanten im innersten Kreis der RAF-Kommandoebene zu platzieren. Ab Ende der 1960er-Jahre war es in Berlin der Verfassungsschutz-Mann Peter Urbach, der Waffen und Brandsätze lieferte, dann erst für die Festnahme von Andreas Baader sorgte und nach dessen Befreiung Horst Mahler, Monika Berberich und andere in eine Falle laufen ließ. Womöglich hat Urbach selbst, und damit der Berliner Verfassungsschutz, die frühe RAF mit Waffen versorgt. 20 Jahre später hieß der Informant Klaus Steinmetz. Er führte die Polizei zu Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams.
Die beiden RAF-Mitglieder sollten im Bahnhof Bad Kleinen festgenommen werden. Durch eine Kommunikationspanne ging der Einsatz der GSG9-Einheit schief, während Hogefeld überwältigt wurde, konnte Grams zunächst aus der Unterführung auf den Bahnsteig flüchten, wobei er den Polizisten Newrzella erschoss. Von mehreren Kugeln getroffen, stürzte Grams ins Gleis. Und was dann geschah, kostete Grams das Leben und im Nachgang Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) das Amt.
Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU, M) erklärt am 4.7.1993 auf einer Pressekonferenz vor dem Ministerium in Bonn seinen Rücktritt.
Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU, M) erklärt am 4.7.1993 auf einer Pressekonferenz vor dem Ministerium in Bonn seinen Rücktritt.
Fest steht, dass Wolfgang Grams nach den Geschehnissen in einem Lübecker Krankenhaus an den Folgen eines Kopfschusses starb. Fest steht auch, dass er vom Bahnsteig rückwärts ins Gleis stürzte und zwei Polizisten hinterher sprangen. Fest steht außerdem, dass eine Kioskbetreiberin danach sagte, sie habe gesehen wie einer der Polizisten Grams in den Kopf geschossen habe. Und fest steht, dass es nicht mehr möglich war, den Tatverlauf genau zu klären, weil die Polizei zum Zweck der Identifizierung die Reinigung von Grams' Fingern verlangt hatte und so Spuren beseitigt wurden.
Die Widersprüche sind bis heute nicht ausgeräumt. Von offizieller Seite wird der Tod von Wolfgang Grams als Suizid gewertet. Birgit Hogefeld sagte in ihrer Gerichtsverhandlung mehrmals, Grams sei hingerichtet worden. Nach dem missglückten Einsatz, der schlampigen Spurensicherung und Ermittlungsarbeit musste am Ende Innenminister Seiters seinen Hut nehmen.
Die Geschehnisse von Bad Kleinen sollten auch für die RAF Folgen haben. Denn nach der Festnahme eines Kommandomitglieds und dem Tod eines weiteren, dem Gewaltverzicht, der Unklarheit über die weitere Ausrichtung waren die Gräben schließlich so tief, dass sich die Rote Armee Fraktion spaltete.
Informant Klaus Steinmetz verschwand nach den Geschehnissen von Bad Kleinen von der Bildfläche in einem Zeugenschutzprogramm. Verschwunden ist auch das Pärchen, das in Bad Kleinen auf dem Vorplatz des Bahnhofs vorbeigekommen sein soll. Womöglich handelte es sich um weitere, bislang unbekannte Mitglieder der RAF.
Nichts vergessen, nichts vergeben
Die RAF war endgültig so tief in eine Sackgasse geraten, dass sie feststeckte. Die in Bad Kleinen gefasste Birgit Hogefeld äußerte sich in ihrem Prozess mehrfach kritisch zur RAF und ihren Taten. Auch das trug dazu bei, dass die Illegalen schließlich beschlossen, die Rote Armee Fraktion aufzulösen. Das bedeutete aber nicht, dass das Interesse an der Terrorgruppe plötzlich nachlassen sollte. Filme und Bücher wurden auch nach 1998 in großer Zahl produziert. Und es wurden die bekannten Fragen aufgeworfen: Wer half der RAF, wer baute ihre Bomben, wer schoss auf Rohwedder, wer tötete Buback? Auf diese Fragen gibt es bis heute keine Antworten.
Bei späteren Taten gibt es nicht einmal Verdächtige. Drei mutmaßliche RAF-Mitglieder wurden zuletzt gesucht: Daniela Klette, Burkhard Garage und Volker Staub. Klette wurde im Februar 2024 verhaftet, von Garage tauchten neue Spuren auf, Staub bleibt verschwunden.
Die Fahndungsbilder zeigen Garweg, Staub und Klette (oben) und wie sie von den Ermittlern künstlich gealtert wurden (unten).
Die Fahndungsbilder zeigen Garweg, Staub und Klette (oben) und wie sie von den Ermittlern künstlich gealtert wurden (unten).
Auch nachdem Klette gefasst wurde, dürfte nicht viel Licht ins Dunkel des deutschen Linksterrorismus kommen. Was die erstaunte Öffentlichkeit erfuhr, ist, dass eine der meistgesuchten Frauen Deutschlands über Jahrzehnte ein halb-öffentliches Leben führen konnte.


Die nette Frau Ivone
In Berlin-Kreuzberg, in einer kleinen Wohnung, lebte eine gewisse Claudia Ivone, Italienerin, gerne zu Nachhilfe bereit und so sehr an brasilianischem Capoeira interessiert, dass sie mindestens einmal sogar nach Südamerika reiste. Mit ihrem italienischen Pass, der offenbar so gut gefälscht war, dass die Frau mit dem Flugzeug problemlos aus- und wieder einreisen konnte. Gefälscht, weil die nette Frau Ivone in Wirklichkeit Daniela Klette ist.
Festgenommen werden konnte die mutmaßliche ehemalige Terroristin und Räuberin, weil für einen Podcast eine Gesichtserkennungssoftware eingesetzt wurde - und diese im Internet fündig wurde. Richtig, die Öffentlichkeit staunte noch mehr, es gab von der Gesuchten öffentlich einsehbare Bilder bei Facebook.
Was von Daniela Klette zu erfahren ist, bleibt abzuwarten. Es dürfte aber als sicher gelten, dass auch sie keine Interna bekannt geben wird, auch Daniela Klette wird nicht sagen, wer an welchen Taten in welchem Umfang beteiligt war. Es ist zu erwarten, dass die Mauer des Schweigens wieder standhalten wird.
Aufklärung
Was nach fast drei Jahrzehnten bewaffnetem Kampf einer kleinen Gruppe von Extremisten bleibt, abgesehen von einer seltsamen Heroisierung durch versprengte Anhänger, sind Fragen.
Die Fragen nach den Mördern von Buback, Schleyer, Herrhausen und Zimmermann, die Fragen was in Stammheim und Bad Kleinen geschah, die Frage nach dem Verfassungsschutz und der Stasi. Hatte doch die Stasi 1978 notiert, dass Verena Becker, Terroristin der Bewegung 2. Juni und der RAF, "seit 1972 von westdeutschen Abwehrorganen wegen der Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppierungen bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten wird". Was wusste der Verfassungsschutz? Wieso wurde Gudrun Ensslin Ende 1971 in Beirut auf Betreiben des Bundeskriminalamts festgenommen und dann wieder freigelassen? Ganze Bücher wurden darüber geschrieben, Antworten sind aber rar.
Die Schriftstellerin Carolin Emcke, Patenkind des ermordeten Deutsche-Bank-Chefs Alfred Herrhausen, beklagt zurecht, dass es bis heute keinen Weg gibt, die Taten der RAF aufzuklären. Ecke schwebt eine Art Wahrheitskommission vor, wie sie in ihrem eindrücklichen Buch "Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF" schreibt. Der Staat hat die Taten der RAF nicht vergessen, er beschränkt sich aber auf eine juristische Aufarbeitung.
Fahndung 2024: Die Polizei sucht nach Burkhard Garweg
Fahndung 2024: Die Polizei sucht nach Burkhard Garweg
Die Justiz scheint zwar die Frage nach Schuld und Unschuld klären zu können, all die Prozesse gegen RAF-Mitglieder haben aber gezeigt, dass die Aufklärung der Taten im Gerichtssaal nicht leistbar ist.
Will Deutschland dieses Kapitel seiner Geschichte endlich umfassend aufklären, müssen ehemalige RAF-Mitglieder die Möglichkeit haben, straffrei aussagen zu können. Dann könnten auch die Behörden reinen Tisch machen. Dann erhielten auch die vielen Opfer der RAF vielleicht Antworten auf ihre seit Jahrzehnten drängenden Fragen.
Fotos: dpa, Gugau, HSt-Archiv, Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen Archiv